Mehr Content direkt in deine Mailbox! Anmelden
image-265

Der Kampf des ukrainischen Nationalteams in L’Aquila

28.04.2023 - geschrieben von Karsten

Wir haben seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine einige sehr schreckliche Geschichten gehört. Dass die Schlagzeilen der großen Nachrichtenmagazine nur die Spitze des Eisbergs sind, sollte jedem klar sein. Unzählige menschliche Schicksale bleiben unter dem Radar, und zwar so lange, bis der Krieg hoffentlich eines Tages ein Ende findet. Vor einigen Wochen habe ich durch unser Engagement in der Ukraine Sergiy Grechyn, den Trainer des ukrainischen Nationalteams, in L’Aquila kennengelernt. Das, was er mir schon in unserem ersten Videotelefonat erzählte, hat mich komplett vom Hocker gehauen. Dies ist seine Geschichte: Als die russische Invasion am 24. Februar begann, war Sergiy mit über 20 Athleten und vier Mitarbeitern des ukrainischen Nationalteams in der Türkei in einem Trainingslager. Als sie nicht in die Ukraine zurückkehren konnten, fanden sie dank des italienischen Radsportverbands Zuflucht in der Stadt L’Aquila, rund 100 km nordöstlich von Rom. „Wir fühlen uns sehr wohl hier, dank des geringen Verkehrs auf den Straßen, sind die Trainingsbedingungen für uns ideal.“

2821-image -
L’Aquila liegt rund 100 km nordöstlich von Rom und zählt über 69.000 Einwohner. Die Stadt ist sehr idyllisch, umgeben von Bergen und Wäldern. Dank wenig Verkehr auf den Straßen, bietet die Region perfekte Trainingsbedingungen für die jungen Athleten.

Insgesamt 31 Athleten unterschiedlichster Altersklassen befinden sich derzeit in der Region Abruzzen. Da nur wenige von ihnen Teil eines professionellen Radsportteams sind, erhalten sie kaum Unterstützung durch zeitgemäßes Equipment, ganz zu schweigen von einem Rennrad, das sich als zuverlässiges Sportgerät bezeichnen lässt. „Ich schäme mich manchmal, in den Fahrradladen zu kommen. Ich gehe zum Mechaniker und zeige auf die Kiste, die mit ‚Müll‘ gekennzeichnet ist. Es sind Ketten, Kassetten und andere benutzte Fahrradteile drin. Ich sage: Du wirfst diese Kiste bitte nicht weg, ich nehme sie mit.“ Eigentlich sollte es die Aufgabe des ukrainischen Radsportverbands sein, die Athleten mit ausreichend Material zu versorgen, damit sie in die Lage versetzt werden, täglich trainieren zu können, und die Möglichkeit haben, an internationalen Wettbewerben teilzunehmen. Aber leider ist auch dort das Geld knapp, wie mir der amtierende Präsident des ukrainischen Radsportverbands Andriy Grivko berichtete. „Seit dem Beginn der russischen Invasion, bekommen wir mindestens 30 % weniger finanzielle Mittel für die Athleten.“ Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Andriy Grivko massiv in der Kritik steht und ihm gegenüber schwere Vorwürfe erhoben werden. Es würde sich im Radsport zu wenig bewegen, werfen ihm viele Menschen in- und außerhalb der Ukraine vor. In meinem mehr als zweistündigen Gespräch mit dem amtierenden Präsidenten des ukrainischen Radsportverbands, erhärtete sich der Eindruck, dass hinter den Kulissen etwas gewaltig schiefläuft. Denn er erwartet von seinen Athleten gute Ergebnisse trotz der angespannten finanziellen Situation, die bei allen Athleten herrscht. Wenn das Material in einem derart schlechten Zustand ist und es schon selbst daran scheitert, den Sprit für die Fahrt zum Rennen zu bezahlen, wie sollen die Athleten nachweisbare Ergebnisse bringen? Das ist ein Widerspruch in sich.

2830-image -
Sergiy Grechyn in L’Aquila „Ich schäme mich manchmal, in den Fahrradladen zu kommen. Ich gehe zum Mechaniker und zeige auf die Kiste, die mit ‚Müll‘ gekennzeichnet ist. Es sind Ketten, Kassetten und andere benutzte Fahrradteile drin. Ich sage: Du wirfst diese Kiste bitte nicht weg, ich nehme sie mit.“

Er berichtete mir allerdings auch, dass er zu Beginn der russischen Invasion alle World-Tour-Teams angeschrieben und um Unterstützung gebeten hat. „Sie haben jedes Jahr 200, 300 Fahrräder. Jeder Fahrer hat drei oder vier davon. Und ich fragte in den Teams, ob sie die Fahrräder, die sie nicht mehr benötigen, spenden würden. Ich habe von keinem der Teams eine Antwort bekommen.“ Als ich mich mit Sergiy in Italien traf und mir selbst ein Bild machen konnte, stellte ich fest, dass die von Sergiy beschriebene Lage sogar noch untertrieben war. Der Zustand einiger der Räder war katastrophal. Es gab einen Moment, als wir gemeinsam im Auto saßen und an uns das Teamfahrzeug vorbeirauschte: Eine Athletin, die nur wenige Minuten vorher ihr Training begonnen hatte, stürzte. Sie sei okay und habe sich Gott sei Dank nicht ernsthaft verletzt, berichtete ein anderer Trainer Sergiy am Telefon. Allerdings wurde das Schaltwerk an ihrem Rennrad zerstört. Normalerweise ist das für Radteams dieser Größe keine große Sache. Das kaputte Teil wird einfach ersetzt. Aber nicht so für das ukrainische Nationalteam. „Wir haben viele Kinder, deren Fahrräder unterwegs einfach auseinanderfallen. Wir haben sogar zwei Athleten, die überhaupt kein Fahrrad haben, sie müssen also abwechselnd trainieren.“

2831-image -
Der einzige Mechaniker für 31 Athleten versucht, mit den Mitteln die er hat, das meiste herauszuholen. Es handelt sich hierbei um ein Rennrad für einen jungen Athleten der ukrainischen Nationalmannschaft. Die verbaute Technik ist rund 20 Jahre alt.

Bei allen Problemen und Herausforderungen war das gesamte Team in L’Aquila stets gut gelaunt. Irgendwann wurde Sergiy allerdings sehr deutlich und zeigte mir unmissverständlich, was sein größte Sorge ist. „Das Radfahren stirbt vor unseren Augen. Wir sind allerdings gewöhnliche Trainer, wir können dieses Problem nicht allein lösen.“ Es ist niederschmetternd, sehen zu müssen, wie nach rund einem Jahr Krieg in der Ukraine der professionelle Radsport offensichtlich an einem Tiefpunkt angelangt ist. Das Traurige ist, dass es einige in L’Aquila gibt, die aufgrund der aktuellen Situation mit dem Gedanken spielen, die Zelte abzubrechen und sich in der Ukraine der Armee anzuschließen, um an vorderster Front gegen die Russen zu kämpfen.

„Das Radfahren stirbt vor unseren Augen. Wir sind allerdings gewöhnliche Trainer, wir können dieses Problem nicht allein lösen.“

Bis 11.00 Uhr sitzen die meisten Athleten auf den Rennrädern und starten ihr Training. Wir verabredeten uns schließlich für ein Gruppenfoto vor dem Gebäude. Mir wurde später, als ich im Zug auf dem Weg zurück nach Rom saß, bewusst, dass ich bereits sehr erfolgreichen Athleten und angehenden Olympiasiegern begegnet bin. Aber hinter den erfolgreichen und starken Athleten stehen engagierte Personen, die tagtäglich ihr Bestes geben. Ganz besonders in diesen Zeiten, in denen das ukrainische Radsportteam zu Hause seinen Landsleuten Hoffnung und Zuversicht geben könnte, sollte es den Athleten an nichts fehlen müssen. Das ukrainische Nationalteam ist außerdem ein anschauliches Beispiel dafür, dass es sich lohnt, für etwas zu kämpfen.

Bereits kurz nach den ersten Gesprächen, haben wir alles Mögliche in Gang gesetzt, um den Athleten in Italien zu helfen. Von einigen Fahrradkomponenten über Equipment bis hin zu einem neuen Montageständer für die Werkstatt konnten wir direkt dort unterstützen, wo der Bedarf am größten ist. Dies ist jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ihr könnt auch helfen, wenn ihr das möchtet. Auf der folgenden Seite haben wir eine Spendenaktion eingerichtet: Bitte hier klicken. Das Geld geht direkt ohne Umwege an die Athleten in L’Aquila. Jeder noch so kleine Betrag kann einen Unterschied machen und ist eine Investition in die Zukunft der jungen Sportler. Danke für eure Unterstützung! ❤️

author-avaÜber Karsten

Ich bin süchtig nach Bikes, Pedalumdrehungen und sportlichen Herausforderungen. Wenn ich nicht hier auf dieser Website blogge, verbringe ich so viel Zeit wie nur möglich im Sattel. Ich fühle mich in den Bergen wohl und erklimme auf dem Rennrad, Gravel- oder Mountainbike steile Anstiege.